Dezember 2019

'Alle Jahre wieder' kündet die erste Adventskerze die kommende Weihnacht an. Ebenso zuverlässig zaubert sie aber auch die erstaunte Feststellung aus dem Hut: was, schon wieder ist ein Jahr vorbei!
Diesmal war dieses Gefühl noch ausgeprägter als sonst.
Der Blick von 'unserer' Mühle hinaus übers Land machte wirklich nicht den Eindruck, dass es längst schon Winter sei. Trotzdem ging wieder ein Jahr seinem Ende zu.
Einmal mehr.

  

Ein Film, aufgenommen mit unserer kleinen Drohne, zeigt ausgiebig die alte Mühle, die wir während der kommenden Monate bewohnen durften.
(Hätten wir es damals auch nur für möglich gehalten, dass unser Spielzeug knapp einen Monat später geklaut werden würde, wir hätten bestimmt besser darauf aufgepasst!)

Dennoch rüsteten wir uns zur Abwechslung für einen kleinen Ausflug. Wir waren ja immer noch damit beschäftigt, uns eine klare Meinung zu bilden, ob wir im nächsten Jahr mit unserem Schiff hierher in den Süden kommen und den Canal du Midi befahren wollen. Wir nahmen uns deshalb vor, dem Kanal entlang weiter zu fahren Richtung Toulouse, denn diese Stadt hat einen Hafen und bietet auch grösseren Schiffen Möglichkeiten zum Überwintern. Als ehemalige Hauptstadt der Region in der die 'Langue d'Oc' gesprochen wurde, versprüht sie auch heute noch förmlich französisches Leben.
Kurz vor Gardouch kamen wir über eine Brücke und da zeigte sich zu unserer Rechten ein etwas ungewohntes Bild. Wir hielten an, uns die Sache etwas genauer anzusehen. Wir wussten zwar, dass zu dieser Jahreszeit der Kanal streckenweise ohne Wasser ist. Wir konnten das aber nicht so recht verstehen, denn wir haben nirgends Leute gesehen, die mit irgendwelchen Unterhaltsarbeiten beschäftigt waren. Darum machten diese Schiffe hier einen etwas trostlosen Eindruck. Beim genauen Hinsehen fragten wir uns, wieviel Wasser da im Sommer wirklich dazu kommen könnte, bis es, vom jetzt sichtbaren Boden aufsteigend, die Grasnarbe am Ufer erreichen würde. Da fehlt nicht viel. Der Platz zwischen dem Boden in der Mitte des Kanals und dessen Rand schien uns arg knapp. Der Kanal ist wirklich nicht mehr tief! Ausbaggern wäre dringend angesagt! Wir müssten hier sehr präzise in der Mitte fahren und ein Kreuzungsmanöver könnte schnell kritisch werden. Wir hörten förmlich das unangenehme Kratzen unten am Schiffsboden.

       

Wir hielten uns aber nicht allzu lange bei solchen Gedanken auf, denn wir hatten für den Nachmittag eine Führung beim Werk von Airbus auf dem Flughafen Toulouse-Blagnac gebucht. Immerhin hatten einige Produkte dieses Konzerns uns in der Vergangenheit während langer Zeit begleitet. Schon auf dem Parkplatz empfingen uns einstige Paradepferde des Betriebs. Hinten die Concorde, als weltweit erstes ziviles Überschallflugzeug, daneben die Caravelle als eines der ersten Verkehrsflugzeuge mit Jet-Antrieb. Und vorne die A400M, der neueste militärische Transporter, der allerdings verschiedenen Käufern noch immer Sorgenfalten bereitet.
Die Führung brachte uns dann quer durch das weitläufige Gelände in die Montagehallen des A350. Leider war das Fotografieren auf der ganzen Tour verboten und die vielen Zahlen konnten wir nicht im Kopf behalten. Dennoch waren die Eindrücke gewaltig. Eine Zahl konnten wir uns merken: zur Zeit verlassen jeden Monat 10 Flugzeuge der diversen A350-Varianten das Werk und werden an die Kunden abgeliefert. Wenn man bedenkt, dass die verschiedenen Teile, wie Flügel, Heck, Cockpit und Triebwerke in den unterschiedlichsten Ecken Europas gefertigt und zum Zusammenbau hierher geflogen werden, kann man versuchen, sich die dahinter stehende Logistik vorzustellen. Um Gewicht einzusparen, werden diese Flieger weitgehend aus Composit-Kunststoffen gefertigt. Dank geringerem Gewicht verbrauchen sie gut 15% weniger Brennstoff als ältere Modelle. Das zahlt sich aus.
Daneben wird aber noch an weiteren, sehr unterschiedlichen Projekten gearbeitet, an zivilen und militärischen. Selbst an der europäischen Weltraumrakete 'Ariane' wird hier getüftelt und gebaut. Kaum verwunderlich also, dass Toulouse zu einem Hotspot von Industrie (Zulieferfirmen) und Bildung (Universität) geworden ist. Etwas, das bereits beim blossen Spaziergang durch die Stadt augenfällig wird.

Zwei Nächte verbrachten wir in einem Hotel nahe der Metrostation Patte d'Oie. Allein die Originalität dieses Namens verdient, hier besonders erwähnt zu werden. Ausgerechnet in einer Gegend, wo man sonst viel mehr von der Leber der Gans hält als von ihren Füssen. Aber nur zwei Stationen weiter und wir waren im Zentrum der Stadt.

Die Stadt selber war voller Leben und auch beim herrschenden windigen und regnerischen Wetter ganz sicher den Besuch wert.

     

Französische Märkte sind kaum mit Märkten vergleichbar, wie wir sie in anderen Ländern angetroffen hatten. Sie sind omnipräsent. Manchmal im Untergeschoss von Parkhäusern, noch öfter in historischen und teils wundervollen Marktthallen. Aber immer gut besucht. Sie legen Zeugnis ab von einem Lebensgefühl, das Genuss und Freude einen viel grösseren Stellenwert einräumt, als dem blossen Broterwerb. An bestimmten Wochentagen werden die permanenten Märkte durch zahlreiche Marktstände im Freien ergänzt.

     

Sollte Gott wirklich in Frankreich leben, dann ist er bestimmt ein Feinschmecker!

     

Der Pont Neuf überquert die Garonne und ist, trotz seines Namens, die älteste Steinbrücke der Stadt. Mit ihrem Bau wurde 1540 begonnen. Starke Strömung und jahreszeitlich aufkommendes, zerstörerisches Hochwasser stellten den Erbauern aber fast unüberwindbare Hindernisse entgegen. Mehrfach wurde ein mutiger Anfang durch eine der regelmässig wiederkehrenden Fluten einfach weggeschwemmt. Erst 1632 konnte die Brücke fertiggestellt und für den Verkehr freigegeben werden. Offensichtlich hat sie aber seither jede Laune der Garonne heil überstanden.

Selbstverständlich besuchten wir auch die Capitainerie im Hafen des Canal du Midi. Hier wurden wir freundlich empfangen und über die Anlegemöglichkeiten informiert. Es waren sogar noch Plätze frei für den nächsten Winter. Darum konnten wir auf der Plusseite unserer Liste endlich wieder einmal einen Strich anbringen.

  

Der Jahreszeit entsprechend wurden auch hier die Leute durch weihnächtlichen Zauber angelockt und zum Konsum verführt. Ein ausgedehnter Weihnachtsmarkt füllte die Place du Capitole und hatte für (fast) jeden Geschmack etwas im Angebot.

  

Nur ein paar Minuten weiter lockte die Nocturne du Marché sehr erfolgreich mit vielfältigen kulinarischen Köstlichkeiten. Selbst auf der Strasse wurde, trotz des feuchten Wetters, der Platz knapp, während ...

... im Innern der Markthalle Stimmung und Gedränge eines Stadtfestes herrschte.

  

Viel Wein und anmachende Häppchen machten die Besucher offensichtlich sehr zufrieden und die Leute hinter den Theken waren es wohl auch.

  

Am dritten Tag fuhren wir weiter nach Albi. Nicht weit von Toulouse gelegen, stand Albi immer etwas im Schatten der regionalen Hauptstadt und unter der Fuchtel des dort ansässigen Grafen. Dank seiner vielfältigen Geschichte ist Albi vielleicht weniger berühmt, doch kaum weniger interessant. Der erste mächtige Eindruck entsteht beim Anblick der Cathédrale Sainte Cécile, die eher wie eine Burg als wie eine Kirche aussieht. Als grösste Backsteinkirche Europas stellt sie schon mal einen Rekord auf. Kurz nach den Albigenserkriegen erbaut, waren es wohl die Spätfolgen dieser blutigen Auseinandersetzungen, die den Geschmack der Bauherren beeinflussten. Wirklich überwältigend aber ist ihr Inneres, wo ein extrem gut erhaltenes, 30m hohes gotisches Schiff, reich verziert im Stil der italienischen Frührenaissance, den Besucher empfängt. Der noch üppigere, aber vollständig geschlossene Chor nimmt mehr als die Hälfte des Innenraums der Kirche in Anspruch. Er blieb dem damaligen Klerus vorbehalten und befahl den einfachen Gläubigen, sich mit dem Rest zu begnügen. Dem Usus entsprechend, schien das damals niemanden zu stören.
Heute steht er selbstverständlich - für ein Eintrittsgeld - allen Besuchern offen.

  

Die Stadt, ebenfalls zum grössten Teil aus Backsteinhäusern bestehend, hat noch viel vom mittelalterlichen Stadtbild bewahrt. In engen Gassen finden sich viele gut gepflegte Restaurants und die üblichen internationalen Geschäfte, die allerdings nur während der Sommermonate sich am geldbringenden Touristenstrom erfreuen können.

Während der Nebensaison ist das Leben weniger hektisch und der Besucher findet viel Ruhe und überall ausreichend Platz.

In echt französischer Art blüht jedoch der Markt, sei es in der riesigen Markthalle oder ...

 ... während des Wochenmarktes im Freien.

  

Albi ist an der Tarn gelegen, die das ganze Jahr hindurch reichlich Wasser führt und darum schon früh die Bewohner veranlasste, Mühlen zu bauen, die den Marktplatz mit ausreichend Energie versorgten. Diese kam auch schon früh der Textilindustrie zu Gute, die besonders durch die Tuchfärber, welche, als Spezialität, durch die Verwendung von Färberwaid (Isatis tinctoria), ihre Tücher blau zu färben wussten. Auf die Idee, mit gelb blühenden Pflanzen Tücher blau zu färben, muss man schon zuerst kommen. Damit entsprachen sie genau dem Geschmack ihrer Kunden und verhalfen der Gegend zu beachtlichem Reichtum. Diese Färbmethode wurde erst im 17.Jahrhundert durch den echten Indigo (Indigofera tinctoria) abgelöst, der aus Indien stammte, später aber vorwiegend in den amerikanischen Kolonien angebaut wurde. Durch seine mehr als 30-fache Farbkraft verursachte er in den hiesigen Gebieten einen lang andauernden wirtschaftlichen Absturz.

Der heute wohl berühmteste Sohn von Albi ist Henri deToulouse-Lautrec. Wegen einer Knochenkrankheit, die angeblich durch die innerhalb des Adels häufig praktizierte Inzucht entstanden ist, hatte der kleingewachsene Mann etwas mehr mit dem Leben zu kämpfen als andere. Als Sohn einer kleinadeligen Familie mitten in der Stadt geboren (Geburtshaus links), hatte er wegen seiner Grösse von lediglich 1,50m viele erniedrigende Begegnungen zu verkraften. Trotzdem liess er es sich aber nicht nehmen, auch die schönen Seiten seiner Existenz zu geniessen und verkehrte vornehmlich in den etwas weniger pastoralen Kreisen der Hauptstadt Paris. Wo er offenbar sehr willkommen war. Die Stadt ehrt heute ihren wohl bekanntesten Spross mit einem eigenen Museum.

          

Bekannt sind vor allem seine graphisch ausgezeichnet gestalteten Plakate. Sein Schaffen verhalf so manchem Etablissment erst zum weltweit bekannten Ruf.

Die im Museum aufliegenden Erklärungen waren spannend und mussten natürlich gründlich studiert werden.

Ein langer, anstrengender Tag braucht auch einen erholsamen Abschluss!

Zum 'alle Jahre wieder' gehören auch die selbstgemachten Grittibänzen.

In der darauf folgenden Woche besuchten wir den Samstagsmarkt in Revel. Nur 20 Minuten Autofahrt brachten uns in das kleine Marktstädtchen, das mühelos unseren Kopf mit schönen Bildern und unsere Einkauftaschen mit frischen Esswaren füllte.

     

Für die kommenden Tage hatten wir vorgesorgt.

Eine etwa gleich lange Fahrt, aber in die entgegengesetzte Richtung auf der Windrose,  brachte uns in die kleine Stadt Mirepoix. Jeden Montag trifft sich dort auf dem Marktplatz scheinbar die gesamte Bevölkerung. Rund um den Platz haben sich Cafés und Bars angesiedelt und sind bereit, die Gäste zu empfangen. Der Markt scheint für die kleine Stadt fast zu gross zu sein, versteht es aber offenbar, Leute aus der ganzen Umgebung anzuziehen. Entsprechend ist das Angebot vielfältig und geht weit über den Alltagsbedarf hinaus.

  

 

Unser Aufenthalt in der Mühle bei Castelnaudary hat uns viel Zeit und damit die Möglichkeit gegeben, in Ruhe Landschaft und Lebensart der Leute im Departement Aude zu erfahren. Weit abgelegen von jeder grösseren Stadt, fehlten auch die urbanen Ablenkungen. Wir benutzten die Zeit für ausgiebiges Lesen und etwas Sport. Matz war auch handwerklich fleissig, zeichnete viel und ergänzte erfolgreich ihre Projektliste bei 'Ravelry', der internationalen Community der Strickbegeisterten.

An langen Abenden lauschten wir gespannt zwei Hörbüchern des Schriftstellers Stefan Zweig. Der Österreicher hatte sich als Erzähler und als hervorragender Verfasser verschiedenster Biografien einen Weltruhm geschaffen. Hier erzählte er uns das Leben von Marie Antoinette. Sie war die jüngste Tochter der Kaiserin Maria Theresia von Österreich und wurde von dieser, aus rein machtpolitischen Überlegungen, im zarten Alter von 14 Jahren dazu ausersehen, den lediglich um ein Jahr älteren Dauphin von Frankreich, den Enkel des herrschenden Königs Ludwig XV, zu heiraten. Nach dem absehbaren Tod des Königs würde der Enkel dann dessen Thron als König Ludwig XVI erben und die junge Habsburgerin an seiner Seite Königin von Frankreich werden. Eine Konstellation, die Österreich im fortwährenden Konflikt mit Preussen zu einer vorteilhaften Ausgangslage verhelfen sollte. Auf ihrer Reise nach Frankreich musste die junge Printessin, während sie den Rhein überquerte, alles Österreichische, eingeschlossen sämtliche Kleider, ablegen und wurde umgehend nach französischer Sitte neu ausstaffiert. Nie mehr in ihrem Leben sollte sie jemals wieder den französischen Boden verlassen. Niemals ihre Heimat wiedersehen. Mit ihrer Mutter hatte sie von nun an nur noch brieflichen Kontakt.

Während vieler Stunden wurden wir beinahe zu Zeitzeugen bei den unmöglichsten Verwirrungen des jungen Paares, die schliesslich, als letztes Glied in einer langen Kette, der Französischen Revolution den Weg bereiteten. Im Januar 1793 wurde der König Louis XVI mit der Guillotine auf der Place de la Révolution hingerichtet und nur neun Monate später erlitt seine Gemahlin am selben Ort das selbe Schicksal. Doch der Blutdurst des Volkes war damit nicht gestillt. Viele, die selber anfänglich die Ziele der Revolution unterstützt hatten, gingen nur wenig später den selben Weg.
Sicher aber hat keiner der Revolutionäre, die für Liberté, Égalité, Fraternité auf die Strasse gegangen waren, damals geahnt, dass sich in Gestalt eines jungen korsischen Leutnants bereits der kommende Kaiser Frankreichs in ihren Reihen befand. Nur wenige Jahre nach der Revolution sollte Napoleon I sich die Kaiserkrone selber aufs Haupt setzen und das Schicksal Frankreichs in seine absolutistischen Hände nehmen.

Während vieler Stunden, ab und zu bei einem gemütlichen Cheminéefeuer, liessen wir uns fesseln durch die ergreifende Schilderung der Ereignisse der letzten 30 Jahre des 18.Jahrhunderts. Während dieser Zeit wurde das Schicksal Frankreichs auf den Kopf und die Weichen Europas und der ganzen Welt neu gestellt. Für uns war es ein ganz anderes Erleben der Geschichte Frankreichs, weil wir jetzt, nachdem wir viele der damaligen Brennpunkte selber gesehen hatten, für so manches mehr Verständnis aufbrachten. Im Rückblick haben uns unsere alten Geschichtslehrer gelegentlich etwas leid getan, weil sie keine andere Wahl hatten, als uns ihren Stoff etwas gar trocken darzubieten.

Auch wenn das Wetter uns gegen Ende des Monats gar nicht an Weihnachten denken lassen wollte, richteten wir uns für die Festtage doch gemütlich ein und liessen es uns bei Kerzenlicht und Cheminée-Feuer gut ergehen.

Auf einen alten, aber wichtigen Brauch wollten wir jedoch ganz sicher nicht verzichten!

Allen Lesern, die uns bis hierher gefolgt sind, wünschen wir schöne Festtage und ein unfallfreies, erfüllendes neues Jahr!
Matz und Hansruedi

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